„Das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer“, schrieb Astrid Lindgren. Klar, es gab auch Freunde, Familie, Sport, Musik und meinen Commodore C 64. Aber Bücher erschlossen mir neue Weltsichten. Ihnen auch?
(Lesezeit: 5 min.)
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Auf alten Fotos von Familienfesten sitze ich als Zehn- oder Elfjähriger im Hintergrund und lese. Natürlich überwiegend Jugendromane, wo Jünglinge (Schiffsjungen, Knappen, Detektive oder Zauberlehrlinge) aufbrachen, um Abenteuer zu erleben und daran zu wachsen. Das Leben selbst erschien wie ein Abenteuer – groß und geheimnisvoll. Würde meine Zukunft einmal so aufregend sein?
Als Jugendliche, wenn wir unsere Lebensperspektive herausbilden, begreifen wir uns erstmalig als Wesen, die sich eigenständig entwickeln und ihre begrenzte Lebenszeit gestalten können. Ganz offen und ohne viel Vorwissen fragen wir uns: Wie will ich überhaupt einmal leben? Wer will ich einmal werden? Bücher zeigen Möglichkeiten.
Mit Büchern machen wir Lebensexperimente. Wir nehmen die Perspektive eines Protagonisten ein und erleben, wie es ist, so zu sein. Fasziniert erleben wir – halb er, halb wir selbst – die Hindernisse und Gefahren und wachsen daran. Wäre ich so mutig gewesen? Wäre ich so weit gegangen? Hätte ich durchgehalten? Und gleichzeitig vertrauen wir dem Autor, uns durch alle Wirrungen und Zweifel zum guten Ende zu leiten.
Welche Bücher haben diese besondere Kraft, in unser Leben auszustrahlen? Vor einiger Zeit habe ich eine kleine Umfrage auf Facebook, Twitter und Google+ gemacht: Welches Buch hat Dein Leben verändert? Hier die Top 10:
1. Die Bibel
2. Also sprach Zarathustra (F. Nietzsche)
3. Siddharta (H. Hesse)
4. Demian (H. Hesse)
5. Die Verwandlung (F. Kafka)
6. Der Alchimist (P. Coelho)
7. Der Herr der Fliegen (W. Golding)
8. Faust (J. W. von Goethe)
9. Qur’an
10. Stiller (M. Frisch)
Besonders interessant finde ich die Vielfalt: Die christliche Bibel auf Platz 1, der atheistischen Zarathustra auf Platz 2 und der individuell-spirituelle Siddharta auf Platz 3. Viele haben mehrere Bücher genannt.
Vielleicht hat Max Weber, der große Soziologe, Recht mit seiner These, dass die Kunst heute die Rolle der Religion übernommen hat. Das ist keine Kritik am Literaturbetrieb als einer „neuen bürgerlichen Kirche“. Es bestätigt eher die Beobachtung, dass Menschen ihre persönlichen „heiligen Texte“, nicht mehr nur aus der religiösen Tradition ziehen, sondern auch aus anderen Traditionen – manchmal aus verschiedenen gleichzeitig. Bibel, Nietzsche und Hesse – kein Problem.
In unserer pluralistischen Gesellschaft existieren viele verschiedene Lebenswege nebeneinander. Es ist anspruchsvoll, uns darin zu orientieren und unsere Identität zu bilden. Wir brauchen eine lebenstaugliche Weltsicht und müssen diese fast kontinuierlich anpassen. Das ist sehr anstrengend – deshalb zucken manche erschöpft oder enttäuscht zurück und halten sich an eine einzelne Tradition. Das ist in Ordnung, denn es ist ihre Entscheidung. Aber auch sie leben inmitten einer Vielfalt von Perspektiven und Lebensweisen.
Einen einheitlichen Ablauf der Lebensphasen gibt es heute nicht. Eher bewegen wir uns zwischen Lebensweisen wie in einer Großstadt. Es gibt viele Stadtteile, überfüllte Alleen und abgelegene Gässchen. An alten Prachtbauten blättert die Farbe ab, in ehemaligen Sündenpfuhlen tobt die Gentrifizierung. Wir alle sind in dieser Stadt der Lebensweisen unterwegs von irgendwo nach irgendwo. Bücher sind niedergelegte Weltsichten, die Blicke auf Teile der Stadt freigeben – und die ganz unterschiedliche Brücken sein können, je nachdem, von wo man kommt und wohin man will.
Wenn Sie im Buchladen nach guter Lektüre suchen, dann suchen Sie auch nach Weltsichten der für Sie wichtigen Lebensweisen. Manchmal haben wir eine Weltsicht gefunden, bei der wir bleiben wollen und sagen: „Diese Art, die Welt zu sehen gefällt mir – ich lese diese Art von Büchern (diese Autoren, dieses Genre)“ Wie ist das bei Ihnen – bleiben Sie eher in bekannten Stadtteilen? Oder trauen Sie sich, auf Entdeckungsreise zu gehen in der Stadt der Weltsichten?
Anders als Filme verlangen Bücher, für längere Zeit in die Weltsicht des Autors einzutauchen. In guten Momenten bricht ein Satz durch das Wörterdickicht, leuchtet auf der Seite hervor, wie für uns geschrieben. Wir tragen ihn mit uns herum, flüstern ihn vor uns hin und hätten ihn am Liebsten als Poster an der Wand. Erinnerungen richten sich an einem bedeutsamen Satz neu aus – wie Metallspäne um einen Magneten.
Und wie wundervoll – nicht nur wir selbst wachsen an Büchern. Kennen Sie die Freude, wenn jemand uns begeistert von einem Buch erzählt, das wir ihm geschenkt haben? Vielleicht eröffnete es eine Weltsicht, die wir für den Beschenkten noch nicht zugänglich war. Vielleicht wird die Lektüre für den Beschenkten sogar lebensrelevant. Und vielleicht ist das wichtig in einem größeren Zusammenhang.
Was ist die vielleicht größte Herausforderung in einer pluralistischen Gesellschaft? Richtig: Menschen anderer Gruppen, Schichten, Milieus, Regionen etc. zu verstehen. Die Perspektive der anderen ein Stück weit einnehmen zu können. Genau da liegt der Beitrag von Autoren und Bloggern: Gute Bücher führen uns höchst eindrücklich und tief bewegend vor Augen, wie es ist, so zu leben.
Ich weiß nicht mehr, wann mir zuerst Kafkas Satz begegnete: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Lange habe ich ihn so verstanden, das ein gutes Buch im Einzelnen an die Oberfläche bringt, was verborgen, begraben, vergessen in ihm lebt. Doch der Satz sagt mir heute mehr. In der Stadt der Weltsichten unterwegs zu sein, fördert unsere Empathie. Bücher sind ein Mittel gegen soziale Kälte.
Heute lese ich Abenteuergeschichten mit meinen Söhnen – aber immer noch suche ich Lebensexperimente, immer noch sammle ich neue Perspektiven. Derzeit begeistern mich Handke und Hemingway, Aristoteles und Seneca, Clayton Christensen und Martha Nussbaum. Aber das Buch, das ich am Liebsten lesen würde, das für einen Moment meine Weltsicht ausdrückt und dadurch entwickelt – dieses Buch kann ich nur selbst schreiben.
Ich habe diese Erfahrung mit Was tue ich hier eigentlich? gemacht – ich habe eine Zeit lang in dieses Buch hineingelebt und meine Perspektive dort eingeschrieben. Aus diesem Buch springt mich jeder einzelne Satz an, als wäre er für mich geschrieben – weil ich ihn geschrieben habe. Ich bin jedes Mal sehr dankbar, wenn jemand sich persönlich an mich wendet, weil ihm diese Weltsicht etwas bedeutet. Jetzt darf ich ein weiteres Mal meine Weltsicht zu verdichten und zu einem Buch werden zu lassen – ein weiteres grenzenloses Abenteuer.
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Ich danke Kapri-ziös für die Möglichkeit, an der schönen Aktion #Buchpassion teilzunehmen.
Bis bald – und vielen Dank für Ihre kostbare Zeit!
#Bücher #Lesen #Kultur
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